Medical Humanities: Die Behandlung von Krankheit in den Humanwissenschaften
Datum |
Vortrag |
8. April 2025 |
Prof. Dr. Susanne Peters Einführung in Medical Humanities Star Surgeons and their Extraterrestrial Patients: The Pan-universal Medicine of James White |
15. April 2025 |
Prof. Dr. Bettina Wahrig Eine kurze Geschichte des weiblichen Körpers in 13 Stücken |
22. April 2025 |
Dr. Madeline Becker Reproductive Technologies, 'Overpopulation' and Ecofeminism |
29. April 2025 |
PD Dr. phil. habil. Simone Broders What We Do Not Want to Know: Ethical Decisions at the Limits of Knowledge in The Children Act and Klara and the Sun |
6. Mai 2025 |
Prof. Dr. Cornelius Borck Wozu Medizinphilosophie? |
13. Mai 2025 |
Sally Flint, PhD und Corinna Wagner, PhD In Conversation: Art, Writing, and Environmental Health |
20. Mai 2025 |
Prof. Dr. Bettina Hitzer und Dr. Dr. Lea Münch Graphic Medicine und Psychiatrie: Graphic Novels in der medizinischen Ausbildung und Patientenversorgung |
27. Mai 2025 |
PD Dr. med. Pascal Grosse 'Schlafwandeln' als Metapher in Politik und Gesellschaft in Gegenwart und Vergangenheit |
3. Juni 2025 |
Prof. Dr. Monika Pietrzak-Franger Living with Long Covid: Applied Medical Humanities? |
10. Juni 2025 |
Prof. Dr. Christian Kehrt Leistungsgrenzen in der Luft- und Weltraummedizin |
17. Juni 2025 |
Prof. Dr. Heike Ohlbrecht Zur Medikalisierung des Alltags – eine soziologische Perspektive |
24. Juni 2025 |
Prof. Dr. Gudrun Goes Ist die Epilepsie eine heilige Krankheit? Krankheit im Leben und Werk von Fjodor Dostojewskij |
8. Juli 2025 |
Clemens Janke, M.Ed. und Theresa Stampfer, M.A. Mensch-Maschine-Konstellationen in der Medizintechnischen Sammlungsforschung |
[...] it is not only a new language that we need, more primitive, more sensual, more obscene, but a new hierarchy of the passions; love must be deposed in favour of a temperature of 104; jealousy give place to the pangs of sciatica; sleeplessness play the part of villain, and the hero become a white liquid with a sweet taste — that mighty Prince with the moth's eyes and the feathered feet, one of whose names is Chloral.
(Virginia Woolf, "On Being Ill", 1926)
Virginia Woolf diagnostiziert hier etwas überspitzt, daß es einer neuen Sprache bedarf, um Krankheitssymptome wie Fieber, Schmerz, oder Schlaflosigkeit (literarisch) zu kommunizieren. Diese Empfindungen können die üblichen Ingredienzen schöner Literatur, die sie hier nennt: Liebe, Eifersucht, das Spiel zwischen Schurken und Helden — eben nur verdrängen, allerdings ohne deren Platz adäquat zu auszufüllen. Das im Zitat erwähnte Medikament Chloralhydrat eröffnet weitere medizinische, aber auch historische und kulturelle Bedeutungsdimensionen. Noch zu Woolfs Lebzeiten und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein war die Substanz als Anästhetikum in Gebrauch und markiert auch eine wichtige Entwicklung in der modernen Chirurgie, kann aber gleichzeitig im Kontext unterschiedlicher, ineinandergreifender Perspektiven und Machtstrukturen verstanden werden. Als synthetisches Beruhigungsmittel ersetzte es ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das orientalisierte und hedonistisch konnotierte Opium in der westlichen medizinischen Praxis und löste wiederum Suchtwellen in der oberen Mittelschicht aus. Dabei ist es das erste in einer Klasse von Beruhigungsmitteln, die (gering dosiert) dank ihrer beruhigenden aber kognitiv relativ uneinschränkenden Wirkung bis heute immer wieder in unterschiedlichen Formen auftauchen und psycho-pathologische Selbstoptimierung im Kontext moderner "Streß-Gesellschaften" versprechen. Als erste mit dem Namen knockout-drug bezeichnete Droge steht der mighty Prince, wie ihn Woolf betitelt, schließlich auch am Beginn der modernen Geschichte des drink spiking: der oft heimlichen Zugabe von Betäubungsmitteln in Getränke, und damit auch im Kontext sexueller Gewalt.
Die kurze Passage aus dem berühmten Text von Virginia Woolf zeigt uns eine Grundannahme der Medical Humanities, deren Forschungsfeld zunächst in den USA entwickelt, aber mittlerweile auch bei uns etabliert ist: das Medizinische ist stets mit dem Ästhetischen, Kulturellen, Geschichtlichen, Sozialen und nicht zuletzt auch Politischen verbunden. Gemäß ihrem inter- und transdisziplinären Ansatz ist es die Aufgabe der Medical Humanities, medizinische Phänomene im Austausch und im Grenzgang zwischen den Disziplinen der Humanwissenschaften, u.a. den Literatur- und Kulturwissenschaften, den Sozialwissenschaften, den Technik- und Naturwissenschaften, und der Kunst zu untersuchen.
Bereits um 1800 hat der in Halle wirkende Arzt und Medizinhistoriker Kurt Sprengel für das Studium der Geschichte im Zuge der medizinischen Bildung plädiert, da es eine "gesammte Bildung [des] Geistes" ermöglicht, "vor aller Einseitigkeit im Urtheil" schützt, indem es lehrt, "dass auch in den verschiedensten und fremdartigsten Meinungen Wahrheiten liegen können" und schließlich "misstrauisch gegen die menschlichen, gegen seine eigenen Kräfte, und also bescheiden" macht. Grundsätze einer auf die professionelle Ausbildung medizinischer Fachkräfte und die Verbesserung medizinischer Behandlungen fokussierten Form der Medical Humanities erfordern und fördern Toleranz gegenüber Ambiguitäten, nuanciertes Bewußtsein unterschiedlicher kultureller Perspektiven, die Anerkennung der (politischen, kulturellen) Situiertheit von Wissen, kritische (Selbst-)reflexion, ein abgerundetes aber auch radikales und demokratisierendes Bildungskonzept. Neben Medizinethik und Medizingeschichte werden hierfür weitere Perspektiven inkludiert, die mitunter neue methodische Behandlungsansätze hervorbringen, wie z.B. Narrative Medizin oder Kunst- bzw. Performancebasierte Therapieformen.
Die humanwissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Medizin hat bereits eine etablierte Tradition auch mit Michel Foucaults wegweisenden Konzepten der Bio-Politik, des medizinischen Blicks, der Pathologisierung von Körpern und der darin und dadurch wirksamen Machtkonstellationen. Die (unter anderem) daran anknüpfenden „Critical Medical Humanities“ beschäftigen sich z.B. mit kulturellen Konstruktionen von Gesundheit und Krankheit, mit den darin eingeschriebenen und dadurch reproduzierten Normen, mit Identitätskonstruktionen, mit Medizin als performativer Praxis und inkorporieren hierbei auch neuere kritische (z.B. post-koloniale, gender- und queertheoretische, post-humanistische) Ansätze.
Medical Humanities sind schließlich genuin inter- und transdisziplinär, sie können als offene, multi-perspektivische, multi-methodische und kritische Kollaboration vieler Einzeldisziplinen gedacht werden, die die Interdependenzen des Natürlichen und des Kulturellen, und, damit verbunden, des Menschlichen und des Technischen untersuchen. Gerade im Kontext der medizintechnologischen Entwicklungen des 21. Jahrhunderts halten viele konzeptionelle Grenzziehungen nicht mehr stand und verlangen dynamischere Blickweisen. Nicht nur das erneute Forschungsinteresse in Kybernetik, sondern auch Smart-Watches und andere allgegenwärtige Biomonitore und (Mental-)Health-Apps lassen uns schließlich zu natürlichmaschinell-künstlich-kulturellen Mischwesen werden. Diese Entwicklungen müssen nicht nur in ihren technischen und biologischen, sondern auch gesellschaftlich-ökonomischen Bedingungen wie der Akkumulation biometrischer Information unter dem "Daten-Kapitalismus" verstanden werden und finden gleichzeitig nuancierte Bearbeitungen in Literatur und Kunst. Um Diagnosen über die medizinisch-kulturelle Gegenwart (und ihre historische Entwicklung) zu ermöglichen, müssen die Medical Humanities zu einem interdisziplinären und interkulturellen Raum für Translationsprozesse zwischen unterschiedlichsten wissenschaftlichen Perspektiven werden.
Ein solcher Raum soll schließlich in der Ringvorlesung geschaffen werden. Aktuelle Perspektiven einzelner Disziplinen der Fakultät für Humanwissenschaften und darüber hinaus lassen hier eine Rahmung und Zusammenschau ihrer Gegenstände hinsichtlich ihrer medizinisch-kulturellen, sozialen, ethischen und historischen Bedeutung sichtbar werden. Gemäß dem interdisziplinären Grundgedanken der Medical Humanities soll in der Ringvorlesung eine breite Auswahl an Fächern einschließlich der Medizin und Medizingeschichte gehört werden.